Sozialvideografie

Die Studie Sozialvideografie fand im Kontext sozial- und videopädagogischer Forschung 1994/95 in Dresden statt. Die Studie war ein Teilprojekt im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“. Dieses Programm wurde in den 1990er Jahren von der Bundesregierung auf dem Hintergrund zunehmender sozialer und jugendpolitischer Konfliktlagen in Ostdeutschland durchgeführt.

Die Begleitforschung erfolgte durch das Institut für Sozialpädagogik und Sozialarbeit an der Technischen Universität Dresden (Projektleitung: Prof. Dr. Lothar Böhnisch). Meine Aufgabe bestand in der Entwicklung des Konzepts und der Beratung des Teilprojekts Sozialvideografie (Niesyto 1997). Hierzu fanden verschiedene Treffen und Workshops statt. Die Durchführung und Dokumentation des Projekts vor Ort sowie die Projektauswertung war Aufgabe von Projektmitarbeiter*innen und Studierenden der Universität Dresden (Fritz 1997).

Das Projekt Sozialvideografie richtete das Erkenntnisinteresse auf die Exploration jugendkultureller Symbolmilieus. Im Unterschied zu anderen Projekten der wissenschaftlichen Begleitung (sozialstatistische Jugendbefragung, teilnehmende Beobachtung in einem „rechten“ Jugendclub, biografische Interviews mit Jugendlichen) sollte das Projekt einen Zugang zur ästhetisch-symbolischen Dimension jugendkultureller Praktiken und Muster der Welterfahrung und Lebensbewältigung eröffnen. Hierfür wurden zwei Formen videografischer Exploration geplant: Dokumentarisch orientierte Videoportraits und collageartige Videofilme.


Dokumentarische Videoportraits

Bei den Videoportraits stand die videografische Beobachtung und Dokumentation von Aktivitäten, körperlichen Ausdrucks- und Bewegungsformen, Kommunikationsstilen, kulturellen Attributen, Zeichen, Praktiken von Jugendlichen im Vordergrund. Im Rahmen einer aufsuchenden Videoarbeit ging es darum, Jugendliche an ihren vertrauten Treffpunkten zu interviewen, sich von ihnen ihre Welt, in der sie leben, zeigen zu lassen: Wie sie ihre Freizeit verbringen, was für Aktivitäten ihre Gruppe zusammenhält, was sie in ihren Lebensorten machen. Die Grundlage für das Erstellen der Videoportraits sollte stets die persönliche Begegnung, das Interesse an den Jugendlichen und an ihrem Leben sein. Die mediale Dokumentation ist dem zugeordnet, z.B. dass jeder Zugang zur Kamera hat, dass es ein Vetorecht gibt (Zustimmung bzw. Ablehnung bestimmter Aufnahmen) und dass die Filme nur den Personen zugänglich sind, denen die Jugendlichen die Dokumentation zeigen möchten.

Da es sich um ein exploratives Vorgehen handelt, sollte es darum gehen, Video als „camera stylo“, als Möglichkeit zu filmischen Beschreibungen einzusetzen. Es ist dann eine Frage der Auswahl bestimmter Sequenzen für die Analyse und für das eigentliche Videoportrait. Dieses Portrait ist quasi eine „dichte Beschreibung“ aus der Sicht der Forscher*innen und eine filmische Interpretation sozialer Wirklichkeit. Diese Interpretation wird an die Jugendlichen zurückgegeben und kann zum Gegenstand eines neuen, vertieften Kommunikations- und Verstehensprozesses werden. Auf diese Weise kann durch das Erstellen eines Videoportraits etwas gemeinsames Drittes zwischen Jugendlichen und Forschern entstehen (siehe in diesem Zusammenhang das Selbstverständnis des Filmemachers Jean Rouch, der ein dialogisches Vorgehen bei ethnologischen Filmen betonte).


Collageartige Videofilme von Jugendlichen

Im Unterschied und in Ergänzung zu den Videoportraits, die vor allem praktische Aktivitäten dokumentierten, sollten die collageartigen Videoproduktionen Zugänge zu den inneren Vorstellungs- und Bildwelten bei Jugendlichen eröffnen. Die Überlegung war, dass collageartige Formen von Video-Eigenproduktion besonders geeignet sind, um Gefühle und Phantasien zu emotional besetzten Themen auszudrücken. Wenn z.B. Jugendliche im Alltag Probleme haben, ambivalente Gefühle und komplexe Bedingungen zu ertragen und auf diesem Hintergrund oft nach eindeutigen Lösungsangeboten suchen, könnten die Videofilme – so die Überlegung – ein symbolisches Probehandeln ermöglichen: Das Zulassen und Ausdrücken ambivalenter Gefühle im medialen Raum.

Für die Darstellung ambivalenter Gefühle bieten collageartige Formen den Vorteil, sehr Unterschiedliches zusammenbringen zu können. Wichtig ist dabei, nicht nur ziel- und zweckgerichtet vorzugehen, sondern Zufälle zu beachten und für Neues offen zu sein. Wer eine Collage macht, ist ein Bastler, der bekannte Dinge aus den üblichen Zusammenhängen herauslöst und neue Kombinationen ausprobiert. Ein solches Vorgehen ist assoziativ und intuitiv – im Unterschied zum abstrahierenden, analytischen Vorgehen, das zielgerichtet und linear verläuft. Nach dem Sammeln von unterschiedlichem Material ist das neue Zusammenfügen der eigentlich schöpferische Prozess der Collage: Er gibt den vorhandenen Materialien neue Bedeutungen und Aussagen.

Das Konzept sah vor, zunächst Kontakte in behutsamer Form zu interessierten Jugendlichen bzw. Jugendgruppen vorzubereiten (über Vertrauenspersonen). Es gab verschiedene Überlegungen wie die Videocollagen von ersten „Notizblock-Auf­nah­­men“ (Kontakten auf der Straße, in Parks, an Treffs ) über weitere Materialsammlungen (z.B. eigene Auf­nah­men der Jugendlichen von Gegenständen mit hohem Symbolwert) bis hin zum Finden einer gestaltenden Idee für die jeweilige Nachproduktion des Filmmaterials angeregt werden könnten.


Projektergebnisse

Bei den Medienproduktionen zeigte sich, dass  sich die Jugendlichen in einzelnen Jugendtreffs weniger über bestimmte symbolische und jugendpolitische Orientierungen, sondern mehr nach Alters- und Interessengruppen unterschieden (Fritz 1997). So gab es z.B. eine Gruppe, die um den Erhalt des Jugendzentrums kämpfte, dessen Weiterexistenz gefährdet war („Bauwagen-Gruppe“). Diese Gruppe nutzte das Angebot zu einem gemeinsamen Videoportrait, um selbst möglichst viele Aufnahmen zu machen und ihr Jugendzentrum positiv darzustellen. In einem anderen Videoportrait-Projekt trafen sich Gymnasiasten in einem alternativ-linksorientierten Jugendhaus in Dresden. Hier versuchten die Jugendlichen eine Neuinszenierung von Alltagsrealität vor der Kamera mittels exzessiver Kameraarbeit (z.B. Reißschwenks, extreme Nahaufnahmen) sowie durch provozierte Konfrontationen von Passanten mit Mikrofon und Kamera.

Die Auswertung der Projektpraxis zeigte, dass das Angebot zu Videocollagen einzelnen Jugendlichen vor allem als „intime Ausdrucksmöglichkeit individueller Befindlichkeiten“ diente (Fritz 1997, S. 24). Das Angebot wurde in mehreren Gruppen meist von Jugendlichen genutzt, die in diesen Gruppen eine eher randständige Position hatten. Es handelte sich sowohl um Jugendliche mit einer hohen Formalbildung als auch um Jugendliche, die Probleme mit herkömmlichen Kommunikationsmitteln wie Sprache und Schrift hatten. Sie fanden in den Collagevideos eine Möglichkeit, ihre inneren Bildwelten auszudrücken und in der Nachproduktion aufgenommenes Bild- und Tonmaterial im Sinne audiovisueller „Tagebucheinträge“ weiter zu bearbeiten.

Zu den Erfahrungen und Ergebnissen des Sozialvideografie-Projekts im Einzelnen siehe den Beitrag von Karsten Fritz (1997).


Publikationen

  • Niesyto, Horst (2000): Youth Research on Video Self-productions. Reflections on a Social-aesthetic Approach. In: Visual Sociology, Vol. 15 (2000), pp. 135-153. Darin zum Sozialvideografie-Projekt: S. 141-144. Preprint
  • Niesyto, Horst (1997): Sozialvideografie und Jugendforschung. In: deutsche jugend 1 (1997), S. 11-18.
  • Fritz, Karsten (1997): Sozialvideografie. Erfahrungen und Ergebnissen aus der Projektarbeit. In: deutsche jugend 1 (1997), S. 19-26.
  • Niesyto, Horst (1996): Sozialvideografie: Mediale Exploration als spezifischer Zugang zur ästhetisch-symbolischen Dimension jugendkultureller Milieus. In: Endbericht der wissenschaftlichen Begleitung des „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“, hrsg. vom Institut für Sozialpädagogik und Sozialarbeit der Technischen Universität Dresden und dem Institut für regionale Innovation und Sozialforschung IRIS e.V. Dresden 1996: S. 66-79 und S. 91-95.