Medienpädagogisches Landjugendprojekt:

„Wir machen uns unsere eigenen Bilder!“

Das Projekt „Medienpädagogik auf dem Lande“ fand unter der Leitidee „Wir machen uns unsere eigenen Bilder!“ von 1986 bis 1988 im Odenwaldkreis (Südhessen) in Trägerschaft des Kreisausschuss Odenwaldkreis und unter Koordination des Jugendbildungswerkes des Odenwaldkreises statt. Es wurde von der Stiftung Deutsche Jugendmarke e.V. (Bonn) als Modellprojekt gefördert. Ich hatte die Möglichkeit, das Projekt als Mitarbeiter des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (Frankfurt/Main) wissenschaftlich zu begleiten. Das Landjugendprojekt bildete die empirische Grundlage meiner Promotionsstudie über Erfahrungsproduktion mit Medien (1991), die von Prof. Dr. Lothar Böhnisch (Universität Tübingen, Institut für Erziehungswissenschaft) betreut wurde.

Das Medienprojekt ging von der Überlegung aus, dass Jugendliche und junge Erwachsene auf dem Lande in dem Spannungsverhältnis von Anpassung (an eher traditionelle Rollenbilder) und Anderssein (oft in Anlehnung an großstädtisch geprägte jugendkulturelle Stile) leben. Dabei, so die Annahme, ist es für Jugendliche in ländlichen Sozial- und Kommunikationsräumen nicht einfach, sich angesichts einer dörflichen Sozialkontrolle und mangelnder Jugendöffentlichkeiten zu artikulieren und eigene Wege der Lebensbewältigung und -gestaltung zu entwickeln (Niesyto 1991: Medienpädagogik und Jugendforschung).

Im Mittelpunkt des Praxisprojekts stand die Fragestellung, wie durch eine > aktive Medienarbeit Jugendliche und junge Erwachsene aus einem ländlichen Raum darin unterstützt werden können, eigene Bilder von Alltag und Leben in Dorf und Region zu entwickeln.


Zentrale Intentionen des Projekts

  • Jugendliche und junge Erwachsene motivieren, sich mit ihren Alltagserfahrungen in für sie relevanten Lebensbereichen auseinanderzusetzen und dabei soziale Nahräume und Lebensorte zu erkunden;
  • in diesem Erkundungs- und Erfahrungsprozess Medien als authentische Ausdrucks- und Gestaltungsmittel kennenzulernen und für sich nutzbar zu machen;
  • die beteiligten Jugendlichen und Gruppen ermutigen, mit den Eigenproduktionen in vorhandene, traditionelle Öffentlichkeiten zu gehen und neue Öffentlichkeiten zu schaffen;
  • durch die Entwicklung und Unterstützung von Gemeinschaftsvorhaben (wie z.B. regionale Jugendfilmtage, regionales Videomagazin) Kontakt und Kommunikation unter Gruppen in der gesamten Region zu fördern.

Die Orientie­rung an subjektiven Ausdrucksformen mit Medien war ein wesentliches Element des me­dien­pädagogischen Konzepts, um gerade jenen Jugendlichen adäquatere Ausdrucksmöglichkeiten zu eröffnen, die erfahrungsgemäß mit Verschriftlichungen und stark gesprächsorientierten Arbeitsformen Probleme haben. Die Medienproduktionen entstanden überwiegend nicht im Rahmen kurzzeitpädagogischer Seminare, sondern vor allem im Kontext einer orts- und gruppenbezogenen Jugendarbeit. Insgesamt entstanden ca. 30 Eigenproduktionen, die sich mit der Freizeitsituation in Dörfern, mit dem Vereinsleben, mit den Medienwelten Jugendlicher und der regionalen Jugendkulturszene auseinandersetzten.

An den Produktionen waren Jugendliche aus unterschiedlichen Altersgruppen, soziokulturellen Milieus und Orten beteiligt. Bei der Mehrzahl der Produktionen handelte es sich um Videofilme. Die Darstellungsformen reichten von mehr dokumentarischen Aufnahmen über clip- und collageartige Produktionen bis hin zu Kurzspielfilmen.

Eine medienpädagogische Unterstützungsstruktur gab es seitens des Jugendbildungswerkes, der Kreisjugendpflege und weiterer Partner. So konnten sich die am Projekt beteiligten Mitarbeiter*innen in mehreren Workshops auf die Begleitung der Gruppenproduktionen vorbereiten und in einer Projektgruppe die Erfahrungen austauschen. Es entwickelten sich Kooperationen mit Jugendverbänden und lokalen Vereinen, Initiativen in freier Trägerschaft, einzelnen Schulen und einer Beratungsstelle für arbeitslose Jugendliche.

Näheres zum Konzept des Modellprojekts, zur Medienpraxis und den wichtigsten praxisbezogenen Erfahrungen finden sich in dem Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung (Niesyto 1989, Kurzfassung).

Über die erste Projektphase (1986/87) entstand ein Begleitfilm, den Hans-Uwe Daumann im Auftrag des Medienprojekts und mit Unterstützung der Ludwigshafener Medienwerkstatt CUT e.V. konzeptionierte und realisierte. Im Folgenden einzelne Ausschnitte aus dem Begleitfilm (die technische Qualität des damaligen Originalfilms war erheblich besser):

  • „Wir über uns“ – Schülergruppe aus einem Berufsvorbereitungsjahr (Ausschnitt 1, links, 02:25 min)
  • Jugendgruppe „Erstes Bromischer Fernsehen“ (Ausschnitt 2, Mitte, 04:16 min)
  • Jugendliche berichten über Erfahrungen beim Erstellen der Videofilme (Ausschnitt 3, rechts, 02:36 min)

Foto: Projekt "Wir machen uns unsere eigenen Bilder!" (Wagen einer Jugendgruppe auf dem Kerwe-Umzug)

Beispiel: Erstes Bromischer Fernsehen

Jugendliche gingen mit ihren Medienproduktionen in die lokale Öffentlichkeit und setzten sich für ihre Anliegen ein. So nutzte die Gruppe Erstes Bromischer Fernsehen einen Kirchweih-Umzug im Dorf, um in einem eigenen Wagen auf die Forderung nach einem Jugendraum aufmerksam zu machen. Zuvor hatte die Gruppe bereits einen Videofilm über ihr Dorferleben produziert und sich mit dem eigenen Dorfbild auseinandergesetzt. Außerdem zeigte die Gruppe auf einer Bürgerversammlung eine Ton-Dia-Schau – sie nutzte die Ressourcen des Medienprojekts, um ihre Forderung nach einem selbst gestaltbaren Jugendraum auf verschiedenen „Bühnen“ der Dorföffentlichkeit zu artikulieren. Die Aktivitäten verliefen nicht konfliktfrei. Das Fallbeispiel ist im Band Erfahrungsproduktion mit Medien (im Anhang) dokumentiert; siehe auch Niesyto 1991 (S. 68-91) und Niesyto 1993 sowie den Ausschnitt 2 aus dem Videobegleitfilm zum Odenwälder Medienprojekt (04:16 min, siehe oben, Mitte).


Horst Niesyto (1991) Erfahrungsproduktion mit Medien

Erfahrungsproduktion mit Medien 

Die Promotionsstudie Erfahrungsproduktion mit Medien (Niesyto 1991) unterzog die Erfahrungen, die in dem Modellprojekt gemacht wurden, einer vertiefenden, qualitativen Analyse, um sie für die Landjugendforschung und die Jugendmedienarbeit im ländlichen Raum fruchtbar zu machen.

Im Mittelpunkt stand die Fragestellung, welche medialen Selbstbilder und Darstellungsformen in den Eigenproduktionen enthalten sind und inwiefern das Erstellen und das Öffentlichmachen dieser Produktionen jugendkulturelles Selbständigkeitsstreben beförderte.

Die Promotionsstudie ging davon aus, dass die Eigenproduktionen Jugendlicher und das Forschungsinter­esse zwei Di­men­sionen sind, die zwar zusammenhängen, aber auch je­weils eine eigenständige Bedeutung haben. Da­mit sollte der Ge­fahr einer thematischen Ver­zweckung und einer Instrumentalisierung der Medienarbeit durch eine Über­frachtung kognitiv orientierter, wissenschaftlicher Arbeitsmetho­den entgegengewirkt werden. Der erneute Durchgang durch das empirische Material erfolgte auf der Basis verschiedener Dimensionen der Operationalisierung und wertete zahlreiche Dokumente sekundäranalytisch aus (Produktanalysen von Eigenproduktionen, Auswertung von Beobachtungen bei Gruppenprozessen, Gruppendiskussionen mit Jugendlichen, Video-Portraits mit einzelnen Jugendlichen, Gespräche mit Mitarbeiter*innen).

Ergebnisse der Studie

Die Studie erbrachte zahlreiche Ergebnisse zu den Aspekten „Mediale Selbstbilder“, „Aneignungsweisen und mediale Darstellungsformen“, „Erfahrungsproduktion in Gruppen“ sowie „Öffentlichmachen der Eigenproduktionen“. So konnten in der Analyse der Videofilme, der Kontextmaterialien und der verbalen Aussagen eine relative Vielfalt jugendkultureller Milieus im ländlichen Raum herausgearbeitet  werden. Allerdings wird diese Vielfalt durch den Einfluß lokaler, tradioneller Kulturformen „gebremst“ und muss sich stärker – als etwa im großstädtischen Raum – in Auseinandersetzung mit traditionellen Strukturen entwickeln und behaupten. Dies führt aber nicht dazu, dass sich die verschiedenen Milieus einander annähern. Es gab zwar gemeinsame Bezugspunkte, z.B. die Natur als wichtige Ressource oder das Bedürfnis nach sozialer Nähe und in der Region zu bleiben. Aber auf dem Hintergrund unterschiedlicher Herkunftmilieus und Bildungsniveaus sowie unterschiedlicher Einstellungen und Präferenzen gegenüber massenmedialen Angeboten war eher ein Trend zur Differenzierung jugendkultureller Milieus zu beobachten („Integrierte“ und „Dorforientierte“, dörfliche „Outsider“, „Marginalisierte“, „Action-Orientierte“, „Gegenkulturelle“). Auch zu den Dimensionen „Aneignungsweisen und mediale Darstellungsformen“, „Erfahrungsproduktion in Gruppen“ und „Öffentlichmachen der Eigenproduktionen“ gab es diverse Befunde (vgl. Niesyto 1991, Kap. 6-9).

Die Ergebnisse verdeutlichen den Stellenwert einer symbolischen Umweltaneignung mit Medien für Jugendliche im ländlichen Raum, die im Spannungsfeld von ländlich-traditionalen, urbanen und medialen Orientierungsmustern nach eigenen Wegen der Lebensbewältigung und Lebensgestaltung suchen. Aus der Analyse konnte in Verbindung von lebensweltorientierter Medienarbeit und qualitativer Landjugendforschung ein Ansatz der Erfahrungsproduktion mit Medien als eigenständige sozialästhetische Praxis Jugendlicher entwickelt werden.

Es wäre eine spannende Aufgabe, Beobachtungen und Befunde aus dem Odenwälder Medienprojekt von Ende der 1980er Jahre mit aktuellen Praxisbeobachtungen und Studien zur medienpädagogischen Aktivitäten im ländlichen Raum zu vergleichen: Inwieweit hat sich auf dem Hintergrund gesellschaftlich-medialer Veränderungen eine neue Situation mit neuen Herausforderungen ergeben und wo gibt es möglicherweise auch einzelne Kontinuitätslinien?


Publikationen

  • Niesyto, Horst (1991): Erfahrungsproduktion mit Medien. Selbstbilder, Darstellungsformen, Gruppenprozesse. Edition Soziale Arbeit. Weinheim und München 1991: Juventa. (ISBN: 3-7799-0830-1; 271 Seiten; Veröffentlichung der Dissertation) Inhaltsverzeichnis + Einleitung
  • Niesyto, Horst (1991): Medienpädagogik und Jugendforschung. Symbolbildung und Symbolverstehen. In: medien praktisch 4 (1991):  S. 56-61.
  • Niesyto, Horst (1991): Jugendliche machen sich ihre eigenen Bilder. In: Ländliche Lebenswelten, hrsg. von Lothar Böhnisch, Heide Funk, Joseph Huber, Gebhard Stein. Weinheim und München 1991: S. 58-92.
  • Niesyto, Horst (1989): Medienpädagogisches Modellprojekt mit Jugendlichen im ländlichen Raum. Abschlussbericht. In: Medienpädagogik auf dem Lande. Dokumentation eines medienpädagogischen Modellprojekts, hrsg. von Horst Niesyto. Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, ISS-Paper Nr. 43. Frankfurt/Main 1989: S. 3-121. (ISBN: 3-88493-083-4; 235 Seiten; praxisbezogene Dokumentation des Modellprojekts).
  • Niesyto, Horst (1989): Medienpädagogisches Modellprojekt. Kurzfassung des Abschlussberichts. Erbach/Odenwald 1989. (Praxisbezogene Broschüre, hrsg. vom Kreisausschuss Odenwaldkreis, 27 Seiten)

Weitere Publikationen zum Projekt

  • Daumann, Hans-Uwe (2013): Zwischen Gammelsbach und Breuberg: Das Medienpädagogische Modellprojekt des Odenwaldkreises 1986-1988. In: Medienbildung in einer sich wandelnden Gesellschaft. Festschrift für Horst Niesyto, hrsg. von Björn Maurer, Petra Reinhard-Hauck, Jan-René Schluchter, Martina von Zimmermann. München: kopaed, S. 45-55.
  • Niesyto, Horst (1993): Erstes Bromischer Fernsehen und Video-Magazin. Jugendliche auf dem Land eignen sich mit Medien soziale Räume an. In: Handlungsorientierte Medienarbeit. Video, Film, Ton, Foto, hrsg. von Gerd Brenner und Horst Niesyto. Reihe Praxishilfen für die Jugendarbeit. Weinheim und München 1993: Juventa, S. 48-52.
  • Niesyto, Horst (1993): Die Füße. Ein Videofilm von Mädchen über den Medienalltag. In: Handlungsorientierte Medienarbeit. Video, Film, Ton, Foto, hrsg. von Gerd Brenner und Horst Niesyto. Reihe Praxishilfen für die Jugendarbeit. Weinheim und München 1993: Juventa, S. 52-57.
  • Niesyto, Horst (1993): Hör-Werkstatt. Kooperation von Jugendmedienarbeit und Rundfunk. In: Handlungsorientierte Medienarbeit. Video, Film, Ton, Foto, hrsg. von Gerd Brenner und Horst Niesyto. Reihe Praxishilfen für die Jugendarbeit. Weinheim und München 1993: Juventa, S. 93-100.
  • Niesyto, Horst (1992): Wozu Medienarbeit im ländlichen Raum? In: Ländliche Heimaträume. Ländliche Medienkultur im europäischen Integrationsprozess, hrsg. von Jürgen Laufer und Michaela Thier. Bielefeld 1992: S. 56-65.
  • Niesyto, Horst (1992): Auf dem Lande leben – Aspekte der Medien- und Kulturlandschaft. In: Medien- und Bildungsarbeit auf dem Lande. Didaktische Materialien, hrsg. von Dieter Baacke und Jürgen Laufer. Bielefeld 1992: GMK-Schriftenreihe, S. 9-29.
  • Niesyto, Horst (1992): Media Work in rural communities. In: Media Education in Europe, hrsg. von Bernd Schorb. München: S. 197-207.
  • Niesyto, Horst (1990): Medien als Erfahrungsräume. In: Pädagogik des Jugendraums, hrsg. von Lothar Böhnisch und Richard Münchmeier. Weinheim und München 1990: S. 71-78.
  • Niesyto, Horst (1989): Medienarbeit als symbolische Umweltaneignung. In: Medienforschung und Kulturanalyse, hrsg. von Stefan Müller-Doohm und Klaus Neumann. Oldenburg 1989: S. 129-158.
  • Niesyto, Horst (1989): Jugendliche eignen sich mit Medien soziale Räume an. In: medien + erziehung, Heft 3 (1989): S. 157-162.