Medienpädagogik und Inklusion

“In diesen Produktionen vermittelt sich dem Hörer ganz stark etwas von den Kindern, da machen sich Subjekte wirklich als Subjekte bemerkbar. Irgendwie verschaffen sie sich eine Stimme und sagen: ‚Hier bin ich und das bin ich und ich habe den Wunsch, dieses der Welt draußen zu sagen‘. Die Art, wie sie das sagen, wie sie das singen, wie sie sich gegenseitig umarmen – man spürt, wie das ein Glück für sie bedeutet. Auf dieser Ebene, da kommen ganz wichtige Werte zustande. Ich weiß nicht, was das ist; aber da sind die Medien für diese Jugendlichen wirklich Tore, durch die sie hindurch gehen können und wodurch sie stark werden können. Sie gehen da durch, sie benutzen diese Medien und sie merken: ‚Wir können etwas sagen, wir haben etwas zu sagen, wir sind wer, die anderen hören uns zu‘. Diese Erfahrung macht sie ganz stark und glücklich. Das spüren auch die von außen, die Nichtbehinderten. Es ist kein Wert der formalen Ästhetik, es ist ein Wert auf einer ganz anderen Ebene.” (Mitarbeiterin eines Medienprojekts, die im Rahmen der Studie „Medienpädagogik und soziokulturelle Unterschiede“ interviewt wurde, vgl. Niesyto 1999, S. 65)

In mehreren Projekten medienpädagogischer Praxisforschung, an denen ich beteiligt war, ging es auch um die Frage, wie Medienpädagogik einen Beitrag zur Minimierung von sozialer Benachteiligung und digitaler Ungleichheit leisten kann und welche Angebote und Konzepte für eine zielgruppensensible und inklusive Medienbildung geeignet erscheinen. Hierzu gehören auch medienpädagogische Angebote für Menschen mit Behinderungen (Niesyto 2019; zum Begriff „inklusive Medienbildung“ siehe den Beitrag von Zorn/Schluchter/Bosse 2019).

So gab es z.B. im Forschungsprojekt > VideoCulture  eine Gruppe, die einen Videofilm zum Thema „Freude und Leid“ an einer Schule mit dem Förderschwerpunkt körperliche Entwicklung erstellte. Margrit Witzke (wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt) beschrieb und analysierte den Videofilm und den Erstellungsprozess ausführlich (Witzke 2003; 2004). Die Video-Eigenproduktion  verdeutlichte das große Potential einer Medienarbeit, die jungen Menschen freie Themenwahl und Offenheit in der Gestaltung bietet – gerade für den Ausdruck von emotional stark besetzten Themen, deren Verbalisierung den Jugendlichen schwer fällt oder unmöglich ist. Magrit Witzke schrieb damals in ihrer Conclusio:

„Zentrale Themen, die sich im Produktionsprozess verfestigten, während andere verschwanden, scheinen der Aufbau von Freundschafts- und Liebesbeziehungen, die Auseinandersetzung mit Zukunftsplänen und der Umgang mit Krankheit, Tod und Verlust zu sein. Möglicherweise gab die gemeinsame Videoproduktion den beteiligten Jugendlichen eine Gelegenheit, diese emotional besetzten Aspekte der eigenen Entwicklung in der Gruppe zu thematisieren, sich vergleichbarer Wahrnehmungen und Gefühle zu versichern und diese wichtigen Themen selbst zu bearbeiten. Sich diesen stark emotionalen Dingen in Form einer Videoproduktion anzunähern, die eine persönliche Distanzierung über die Spielhandlung erlaubt und eine Verbalisierung nicht zwingend nötig macht, schien ein geeigneter Weg.“ (Witzke 2003, S. 181/2)


Ein weiteres Forschungsprojekt entstand aus der Zusammenarbeit mit Jan-René Schluchter. Er absolvierte an der PH Ludwigsburg zunächst ein Lehramtsstudium im sonderpädagogischen Bereich sowie das Erweiterungsstudium Medienpädagogik. Danach setzte er sich in seinem Diplompädagogik-Studium intensiv mit medienpädagogischen Fragen auseinander.

Jan-René Schluchter (2010): Medienbildung mit Menschen mit Behinderung. Schriftenreihe Medienpädagogische Praxisforschung, Band 5. München: kopaed.

Schluchter, Jan-René (2010): Medienbildung mit Menschen mit Behinderung. Schriftenreihe Medienpädagogische Praxisforschung, Band 5. München: kopaed.

Die Diplomarbeit von Jan-René Schluchter zum Thema Medienbildung mit Menschen mit Behinderung war richtungsweisend, weil sie in systematischer Form erste Schritte unternahm, um das Schnittfeld von Medienpädagogik und Sonderpädagogik theoretisch-konzeptionell auszuleuchten und mittels einer empirischen Erhebung die Erfahrungswerte von Experten*innen zu heben, die in diesem Schnittfeld arbeiten.

Für die Diplomarbeit erhielt Jan-René Schluchter 2010 einen medius-Preis.


Promotionsstudie

Jan-René Schluchter entwickelte die Idee zu einem Forschungsprojekt „Medienpädagogik in der sonderpädagogischen Ausbildung von Lehramtsstudierenden“, das im Rahmen einer Promotionsstelle gefördert werden konnte (2010-2013). Auf der Grundlage der Auseinandersetzung mit medienpädagogischen Angeboten im Rahmen der sonderpädagogischen Ausbildung von Lehramtsstudierenden (in Baden-Württemberg) sowie der beruflichen Praxis von Sonderschullehrer*innen ging es darum, Perspektiven für eine Intersektion von Medienpädagogik und Sonderpädagogik in Bezug auf den Ausbildungsbereich zu entwickeln.

Jan-René Schluchter (2014): Medienbildung in der (sonder)pädagogischen Lehrerbildung. Bestandsaufnahme und Perspektiven für eine inklusive Lehrerbildung. Schriftenreihe Medienpädagogische Praxisforschung, Band 8. München: kopaed.

Teil des Forschungsprojekts waren Analysen zu den Medienbiografien von Lehramtsstudierenden (Sonderpädagogik), um Zusammenhänge zwischen personalen Dispositionen (u. a. Erziehungsstil der Eltern, eigene Erfahrungen mit Unterricht) und Haltungen gegenüber Medien/ Medienpädagogik herauszuarbeiten. Die theoretisch-konzeptionellen Überlegungen zur Intersektion von Sonderpädagogik und Medienpädagogik und die Erkenntnisse aus den empirischen Erhebungen zu den bestehenden Ausbildungsangeboten (Hochschulen), zu den Medienbiografien (Studierende) und zur beruflichen Praxis (ausgewählte Einrichtungen/Akteure) mündeten in die Entwicklung eines medienpädagogischen Curriculums für die Hochschulausbildung von Sonderpädagogen*innen ein.

Innovativ an der Arbeit ist vor allem die professions- und medienbiografietheoretische Reflexion und Analyse des Einflusses spezifischer fachkultureller Sozialisationseinflüsse auf das Verständnis von Medien und Medienbildung bei Studierenden.

Dr. Jan-René Schluchter setzte nach der Promotionsstudie seine Arbeit als Akademischer Mitarbeiter bzw. Akademischer Rat in der Abteilung Medienpädagogik (PH Ludwigsburg) fort. Er entwickelte zahlreiche Aktivitäten und Lehrangebote, um inklusive Medienbildung nachhaltig im Studienprofil der Hochschule zu verankern. Neben seiner Lehrtätigkeit ist er zugleich wissenschaftlich-fachlicher Leiter im Bereich Medien des Zentrums für Medien- und Informationstechnologie der PH Ludwigsburg.


Publikationen

  •  Zorn, Isabel / Schluchter, Jan-René / Bosse, Ingo (2019): Theoretische Grundlagen inklusiver Medienbildung. In: Handbuch Inklusion und Medienbildung, hrsg. von Ingo Bosse, Jan-René Schluchter und Isabel Zorn. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 16-33. Link (open access)
  • Niesyto, Horst (2019): Mediensozialisation. In: Handbuch Inklusion und Medienbildung, hrsg. von Ingo Bosse, Jan-René Schluchter und Isabel Zorn. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 34-48. Link (open access)
  • Schluchter, Jan-René (2014): Medienbildung in der (sonder)pädagogischen Lehrerbildung. Bestandsaufnahme und Perspektiven für eine inklusive Lehrerbildung. Schriftenreihe Medienpädagogische Praxisforschung, Band 8. München: kopaed. Link  Online-Materialien zur Publikation: Link
  • Schluchter, Jan-René (2010): Medienbildung mit Menschen mit Behinderung. Schriftenreihe Medienpädagogische Praxisforschung, Band 5. München: kopaed. Link
  • Witzke, Margrit (2004): Identität, Selbstausdruck und Jugendkultur. Eigenproduzierte Videos Jugendlicher im Vergleich mit ihren Selbstaussagen. Ein Beitrag zur Jugend(kultur)forschung. München: kopaed. Link
  • Witzke, Margrit (2003): Das Fenster zur Welt – Videoproduktionen mit körperbehinderten Jugendlichen. In: Niesyto, Horst (Hrsg.): VideoCulture. Video und interkulturelle Kommunikation. München: kopaed, S. 169-191.
  • Niesyto, Horst (1999): Medienpädagogik und soziokulturelle Unterschiede. In: Mediengesellschaft – neue ‚Klassengesellschaft‘? Hrsg. von der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur e.V. (GMK), Rundbrief 42. Bielefeld 1999: S. 65-77.