Digitaler Kapitalismus

Ein quasi zum „Naturgesetz“ erhobenes Wachstumsdenken im ökonomischen Bereich, eine exzessive Konsumorientierung, eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und der anhal­tende Trend zur dauerhaften Bildungsbenachteiligung eines relevanten Teils unserer Gesell­schaft sind ungelöste Problemfelder. Die Digitalisierung wird diese Probleme nicht automa­tisch lösen, da digitale Technologien nicht unabhängig von Macht- und Herrschaftsstrukturen existieren. Der digitale Kapitalismus ist eine solche Macht- und Herrschaftsstruktur.

Mit Blick auf politisch-ökonomische Strukturen, die mit der Entwicklung gesellschaftlicher Medienangebote verbunden sind, setzte ich mich mit Strukturmustern eines kulturellen und digitalen Kapitalismus auseinander (Niesyto 2004; 2017). Diese Strukturmuster beeinflussen auch das Medienhandeln von Menschen und sind ein Sozialisationsfaktor. Es gehört nach meiner Einschätzung zu den Aufgaben einer kritischen Medienpädagogik, sich mit diesen Strukturmustern auseinanderzusetzen und eine gesellschaftliche Verantwortung auch seitens der Medienpädagogik wahrzunehmen.

Fragen der sozialen und gesellschaftlichen Verantwortung können nicht primär aus der ökonomischen Sphäre heraus entwickelt werden. Es bedarf eigenständiger kultureller, sozialer, politischer und rechtlicher Sphären, in denen auf der Basis elementarer Menschenrechte gesellschaftliche Rahmenbedingungen für humane Lebensformen geschaffen werden. Die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung krankt an einer weitgehenden Abwesenheit sozialer Utopien, die jenseits des bislang glorifizierten ökonomischen Wachstumsdenkens neue Perspektiven für ein Zusammenleben der Menschen und Völker eröffnen. Die soziale Verantwortung der Marktwirtschaft – im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ein wichtiger Artikel – wird durch den Konkurrenzkampf der ‚global players‘ um die besten Standorte und Märkte immer mehr ausgehöhlt. National und international nimmt die Kluft zwischen armen und reichen Bevölkerungsteilen zu. Reformen der Sozialsysteme, die auch auf dem Hintergrund demographischer Entwicklungen notwendig sind, sind zu sehr von fiskalischen Erwägungen und kurzfristigen politischen Opportunitätsgesichtspunkten motiviert denn von längerfristigen Gesellschaftsentwürfen und Aspekten sozialer Gerechtigkeit.“ (Niesyto 2004, S. 53).

Folie aus dem Vortrag von Horst Niesyto: Macht der Internetkonzerne – Ohnmacht der Medienpädagogik? (15.03.2017, 40. Stuttgarter Tage der Medienpädagogik)

„Die Affinität zwischen kapitalistischen und digitalen Strukturprinzipien, das Dominanzstreben global agierender Konzerne, die Kopplung dieser Strukturen mit individualistischen Konzepten der Selbstoptimierung drohen gesellschaftliche Kräfte zu marginalisieren, die gegenüber diesem Mainstream andere Vorstellungen von Lebensgestaltung, von Selbstbestimmung, von Gemeinschaftlichkeit und gesellschaftlichen Zukunftsentwicklungen befördern möchten. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass digitale Technologien in zahlreichen Bereichen für aufklärerische, demokratische und partizipative Zwecke genutzt werden. Wir haben es mit einer paradoxen Situation zu tun: Einerseits beweist der Kapitalismus seine Selbsterneuerungskraft dadurch, dass er die systematische Verwertung digitaler Daten ins Zentrum seiner Kapitalakkumulationen rückt – und es offensichtlich dabei schafft, entsprechende Daten-Enteignungsprozesse großen Teilen der Bevölkerung als unproblematische Begleiterscheinung und sogar als persönlichen Vorteil zu verkaufen (nach dem Motto: „Ich habe nichts zu verbergen, bekomme dafür gezielt Informationen und Angebote und kann am Leben vieler Menschen teilnehmen“). Andererseits verbinden sich mit der aktiven Nutzung digitaler Technologien Hoffnungen und Entwicklungen wie sharing economy, Dezentralisierung, Kooperation, offene Zugänge statt Eigentumsprinzip, Demokratisierung der Fabrikation, Stärkung sozial-ökologischer Wirtschaftsformen.“ (Niesyto 2019)


Publikationen

  • Niesyto, Horst (2024): Digitaler Kapitalismus und Bildung. In: Digitale Ethik. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, hrsg. von Petra Grimm, Kai Erik und Oliver Zöllner. Nomos Handbuch-Reihe, Baden-Baden, S. 427-439.
  • Niesyto, Horst (2023): Vermessung als bildungspolitisches Narrativ im Kontext digital-kapitalistischer Strukturen. In: Datafizierung (in) der Bildung. Kritische Perspektiven auf digitale Vermessung in pädagogischen Kontexten, hrsg. von Mandy Schiefner-Rohs, Sandra Hofhues, Andreas Breiter. Bielefeld: transcript, S. 177-194. (Volltext/PDF)
  • Niesyto, Horst (2022): Digitaler Kapitalismus und kritische Medienpädagogik. In: Umrisse einer Pädagogik des 21. Jahrhunderts im Kontext der Digitalisierung, hrsg. von Bernd Schorb, Anja Bensinger-Stolze, Fred Schell, Birgita Dusse und Wolfgang Antritter. München: Kopäd, S. 21-35. Preprint
  • Niesyto, Horst (2021): Digital Capitalism and Critical Media Education. In: seminar.net, Special Issue, Vol. 17 No. 2, p. 1-21. Edited by Valentin Dander, Theo Hug, Ina Sander, Rachel Shanks. Link
  • Niesyto, Horst (2021): Digitale Bildung‘ wird zu einer Einflugschneise für die IT-Wirtschaft. In: medien + erziehung, Heft 1/2021, S. 23-28. Langfassung (PDF, Volltext).
  • Niesyto, Horst (2019): Medienpädagogik und digitaler Kapitalismus. Für die Stärkung einer gesellschafts- und medienkritischen Perspektive. In: Kulturelle Bildung Online. Erstveröffentlichung in der Zeitschrift MedienPädagogik, Themenheft Nr. 27 (2017); Zweitveröffentlichung an der FernUniversität in Hagen (2017).
  • Niesyto, Horst (2017): Die Macht der Internetkonzerne und die Herausforderungen für die Medienbildung. In: Zeitschrift „Deutschland & Europa“, Heftthema „Neue Medien und politische Meinungsbildung“, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Heft 74 (2. Quartal 2017), 34. Jahrgang. Stuttgart, S. 46-51.
  • Niesyto, Horst (2004): Aufmerksamkeitserregung. Kritische Anmerkungen zum kulturellen Kapitalismus unserer Zeit und den Aufgaben einer lebensweltorientierten und emanzipatorischen Medienbildung. In: Medien – Bildung – Religion. Zum Verhältnis von Medienpädagogik und Religionspädagogik in Theorie, Empirie und Praxis, hrsg. von Manfred L. Pirner und Thomas Breuer. Schriftenreihe Medienpädagogik interdisziplinär, Band 2. München: kopaed, S. 52-72.

Vorträge

  • 21.06.2022, Remscheid: Fachtagung „Bildung und digitaler Kapitalismus“; Plenumsvortrag: „Digitaler Kapitalismus – Herausforderungen für die Bildungsarbeit“. PDF
  • 15.03.2017, Stuttgart: 40. Stuttgarter Tage der Medienpädagogik: „Facing the Future – Perspektiven der Medienpädagogik in einer digitalisierten Welt“. Plenumsvortrag: „Macht der Internetkonzerne – Ohnmacht der Medienpädagogik?“

Die Megatrends der Globalisierung, der Individualisierung und der Digitalisierung haben unsere Gesellschaft verändert. Weltweit haben sich Internetkonzerne herausgebildet. Ihre Macht scheint grenzenlos und hat totalitäre Züge angenommen. Der Vortrag gibt im ersten Teil einen Überblick zur aktuellen Macht der Internetkonzerne. Der zweite Teil zeigt Kernpunkte einer Analyse zum digitalen Kapitalismus auf. Der digitale Kapitalismus ist der Motor des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels. Große Teile der Politik hinterfragen diesen Motor nicht, sondern forcieren – gerade auch in Bildung und Wissenschaft – eine Politik, die unter Hinweis auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit eine Anpassung an die Strukturen des digitalen Kapitalismus intendiert. Dies thematisiert der dritte Teil des Vortrags, der sich mit Versuchen der Funktionalisierung der Medienpädagogik befasst. Will Medienpädagogik angesichts der Macht der Internetkonzerne wieder mehr in die Offensive kommen – so die Grundthese im abschließenden, vierten Teil – ist sie gut beraten, wieder stärker ihre politisch-kulturellen Aufgaben zu betonen – und dafür auch neue Wege zu gehen.

Vortragsfolien

Vortragsteile 1+2; ca. 32 min; Begrüßung von Karl-Ulrich Templ, Landeszentrale für politische Bildung, Baden-Württemberg

Vortragsteile 3+4; ca. 18 min

  • 20.03.2015, Aachen: Fachtagung „Spannungsfelder und blinde Flecken. Medienpädagogik zwischen Emanzipationsanspruch und Diskursvermeidung“. Veranstalter: Sektion Medienpädagogik in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) in Zusammenarbeit mit RWTH Aachen, Institut für Erziehungswissenschaft. Plenumsvortrag: „Medienpädagogik im digitalen Kapitalismus“. Link (Tagungsdokumentation)
  • 10.01.2015, Berlin: Fachkonferenz der Rosa-Luxemburg-Gesellschaft, Arbeitskreis Kritische Pädagogik. Vortrag über „Medienkritik und Medienkompetenz im digitalen Kapitalismus“
  • 07./08.10.2011, Buckow: 15. Buckower Mediengespräche zum Thema „Medientechnologien versus Handlungsstrategien: Der Spielraum der Rezipienten“. Vortrag: „Medienbildung im digitalen Kapitalismus“ (07.10.2011). Kurzbericht