Eigenproduktionen mit Medien

In der  (medien-)pädagogischen Forschung mangelte es lange Zeit an einer systematischen Reflexion über die Möglichkeiten, mediale Eigenproduktionen von Kindern und Jugendlichen in Forschungsdesigns zu integrieren und als spezifische Quelle für wissenschaftliche Forschung zu nutzen. Es geht um Eigenproduktionen von Kindern und Jugendlichen – nicht um den Einsatz von Foto und Video für die Dokumentation von Prozessabläufen (z.B. Unterrichtsvideografie) oder um Foto- und Videoproduktionen, die Forscher*innen über Sozialgruppen machen (hierunter fallen z.B. viele Foto- und Filmproduktionen, die in der Visuellen Anthropologie und der Visuellen Soziologie entstehen, vgl. Niesyto 2001).

Angesichts der Mediatisierung von Alltagskommunikation ist die zentrale These, die für mich seit den 1990er Jahren forschungsleitend ist:

Wer in der heutigen Mediengesellschaft etwas über die Vorstellungen, die Lebensgefühle, das Welterleben von Kindern und Jugendlichen erfahren möchte, der sollte ihnen die Chance geben, sich – ergänzend zu Wort und Schrift – auch mittels eigener, selbst erstellter Medienproduktionen auszudrücken.

Dieser These liegt die Annahme zugrunde, dass Kinder und Jugendliche grundsätzlich in der Lage sind, sich mit Medien zu artikulieren. Dies belegten bereits in der Zeit vor der massenhaften Verbreitung von Digitalmedien u.a. zahlreiche Projekte im Bereich der > aktiven Medienarbeit und Produktionen im Rahmen von Medienwettbewerben.

Es geht um eine Erfahrungs- und Phantasieproduktion mit Medien, um subjektive Ausdrucksformen, um verschiedene Genres und Niveaus medialer Gestaltung. Entscheidend ist, dass die Eigenproduktionen von Kindern und Jugendlichen selbst gemacht werden, dass Mädchen und Jungen mittels Medien ihre Themen, Gefühle, Phantasien, Erfahrungen ausdrücken können. Eigenproduktionen sind situations- und prozessbezogene Momentaufnahmen aus der Alltags- und Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen, die unterschiedliche Ausdrucksintensitäten, Einflussfaktoren und Grade von Reflexivität enthalten.


Neben den Erfahrungen im > medienpädagogischen Landjugendprojekt (1986-1988) war es u.a. ein Videofilm zum Thema „Gewalt“, der mein Denken inspirierte. Der Videofilm  entstand 1993 im Rahmen eines Wettbewerbs, den das Institut für Medienpädagogik und Kommunikation / Landesfilmdienst Hessen e.V. in Zusammenarbeit mit der Stadt Frankfurt/Main durchführte. Zu sehen sind Bilder von 13- bis 16-Jährigen, die in einem sog. „sozialen Brennpunkt“ in Frankfurt/Main lebten. Die Jugendlichen hatten keine Vorerfahrungen mit der Produktion eigener Videofilme. Der Medienpädagoge Peter Schulz gab ihnen eine kurze Einführung in die Ausdrucksmöglichkeiten mit Video, für die Aufnahmen und für die Nachproduktion. Er regte an, das Thema „Gewalt“ einmal anders darzustellen, als Raufereien und Kampfszenen zu zeigen (aus urheberrechtlichen Gründen können auf dieser Webseite nur die Bilder gezeigt werden). Wer interessiert ist:  Der Artikel Video als Ausdrucksmedium (Niesyto 1999) enthält zunächst eine kurze Filmbeschreibung und -interpretation und stellt (im Hauptteil) den Ansatz „Eigenproduktionen mit Medien“ im Kontext von Jugendforschung vor.


Durch die digitalen Möglichkeiten und diverse Apps für Foto- und Videoproduktionen haben wir es inzwischen mit einer Situation zu tun, in der visuelle und audiovisuelle Artikulationen zu einem Massenphänomen geworden sind. Selbstverständlich geht es nicht nur um Eigenproduktionen von jungen Menschen, sondern auch um Eigenproduktionen von Erwachsenen. In meiner Forschung lag der Fokus auf Eigenproduktionen, die Kinder und Jugendliche erstellten.

Seit den 2000er Jahren entwickelte sich ein intensiverer Diskurs über die Möglichkeiten, mediale Eigenproduktionen von Kindern und Jugendlichen zum Gegenstand von Forschungsstudien zu machen. Methodologisch bedeutete dies vor allem die Integration von Ansätzen

  • der medienethnografischen Forschung: Beobachtung und Analyse der Medienaneignung und Medienproduktion von Kindern und Jugendlichen in Alltagskontexten;
  • der medienpädagogischen Praxisforschung: Beobachtung und Analyse von medienbezogenen Praxisaktivitäten in pädagogischen Arbeitsfeldern, zum Beispiel das Erstellen von medialen Eigenproduktionen im Kontext schulischer oder außerschulischer Bildungsarbeit.

Die Kontexte des Erstellens der Eigenproduktionen sind jeweils von der Forschung sorgfältig zu dokumentieren und zu reflektieren. Bei Eigenproduktionen mit Medien gibt es unterschiedliche Einflussfaktoren, die von den jeweiligen Themeninteressen über unterschiedliche medienästhetische Vorerfahrungen und Vorlieben (sozial- und medienästhetische Prägungen), Formen des Öffentlichmachens und der intendierten Zielgruppen bis hin zu unterschiedlichen Entstehungs- und Beratungskontexten reichen. In Zusammenhang mit dem Gegenstand und der Fragestellung einer Studie sind für die Analyse und Auswertung spezifische Methoden-Settings in der Verbindung von verbalen und > visuellen Methoden einzusetzen.


Grundformen des Ansatzes „Eigenproduktionen mit Medien“

In der Entwicklung des Forschungsansatzes „Eigenproduktionen mit Medien“ setzte ich mich mit der Forschungssituation in Deutschland und international auseinander und stellte dabei auch Bezüge zu anderen Studien in der Kindheits- und Jugendforschung, der Visuellen Anthropologie und der Visuellen Soziologie her (Niesyto 2001; 2007). Eine vergleichende Auswertung verschiedener medienbezogener Forschungsprojekte zeigte, dass sich bei dem Ansatz „Eigenproduktionen mit Medien“ differenzierend drei Grundformen unterscheiden lassen (Niesyto 2009):

  • Eigenproduktionen werden von Kindern und Jugendlichen ohne Unterstützung durch Medienpädagogen*innen oder andere Berater*innen erstellt. Die Projekte verdeutlichen, dass es vor allem bezüglich der Entstehungskontexte große Unterschiede gibt, z.B. zwischen historisch angelegten, rekonstruierenden Studien etwa im Fotobereich und online-ethnografischen Studien.
  • Eigenproduktionen werden von Kindern und Jugendlichen mit Unterstützung von Medienpädagogen*innen oder anderen Berater*innen erstellt (> aktive Medienarbeit). In diesem Fall ist es besonders wichtig, dass seitens der Forschung die Entstehungskontexte genau dokumentiert und reflektiert werden (Interaktionen zwischen medienpädagogischen Mitarbeiter*innen und Kindern / Jugendlichen).
  • Forscher*innen erstellen zusammen mit Kindern, Jugendlichen und Filmemacher*innen Medienproduktionen in einem dialogischen Verfahren. Kinder und Jugendliche sind in Teilbereichen, z.B. bei den Aufnahmen, aktiv beteiligt und artikulieren ihre Vorstellungen z.B. zur Montage der Aufnahmen. Dieser Ansatz kann sich auf einzelne Forschungstraditionen in der Visuellen Anthropologie und Soziologie stützen.

Diese Grundformen des Erstellens von medialen Eigenproduktionen sind als Möglichkeitstypen zu verstehen. Auch ist es wichtig zwischen Produktionen zu unterscheiden, die auf öffentliche Präsentation bzw. die nicht auf eine solche Präsentation angelegt sind. In der Forschungspraxis gibt es Mischformen, die in unterschiedlicher Intensität z.B. ethnografisch-explorative mit medienpädagogischen Intentionen verbinden.

Die bisherige Entwicklung des Forschungsansatzes „Eigenproduktionen mit Medien“ wurde unter methodologisch-methodischen, thematischen und forschungspraktischen Aspekten auf > Fachtagungen und in Publikationen vorgestellt (u.a. Niesyto 2001; Niesyto/Holzwarth/Maurer 2007; Niesyto 2009). Mehrere Forschungsstudien, die sich vor allem auf die zweite Grundform beziehen (Erstellen von Eigenproduktionen im Kontext aktiver Medienarbeit) wurden in der Reihe > Medienpädagogische Praxisforschung veröffentlicht. Hinzu kamen Promotionsstudien im Kontext von Medienethnographie, die für die erste Grundform stehen (Eigenproduktionen ohne Unterstützung durch Medienpädagogen*innen oder andere Berater*innen).

Zusammenfassend: Der Ansatz „Eigenproduktionen mit Medien“ intendiert durch die Integration präsentativ-symbolischer Ausdrucksformen (Bilder, Bewegtbilder, Körpersprache, Musik) die Erweiterung schrift- und verbalsprachlicher Ausdrucksformen. Dies fördert den Selbstausdruck eigener Gefühle, Sichtweisen und Erfahrungen, nicht nur bei emotional stark besetzten und/oder tabuisierten Themen. Der Forschungsansatz ermöglicht zugleich eine Verknüpfung ethnografisch-explorativer mit verschiedenen medienpädagogischen Praxisforschungs-Settings. Aufgrund seiner Handlungsorientierung leistet er auch einen Beitrag zu einer kommunikativ und partizipativ angelegten Praxisforschung. Dabei ist es wichtig, die Entstehungskontexte der Eigenproduktionen genau zu dokumentieren und das Agieren von wissenschaftlichen und medienpädagogischen Mitarbeiter*innen im Feld zu reflektieren.


Publikationen


Cover Sammelband "Selbstausdruck mit Medien" (Niesyto 2001)

In der Kindheits- und Jugendforschung sind „Selbstzeugnisse“ von Kindern und Jugendlichen wie z.B. Tagebücher oder Zeichnungen schon lange Bestandteil der Forschung. Mit medialen Eigenproduktionen von Kindern und Jugendlichen hat Forschung die Möglichkeit, die Produktionsprozesse (Symbolproduktion) zu dokumentieren und verschiedene Ausdrucksformen (Worte, Bilder, Musik, Körpersprache) zu analysieren und zu interpretieren (Symbolverstehen).

Der Band Selbstausdruck mit Medien. Eigenproduktionen mit Medien als Gegenstand der Kindheits- und Jugendforschung erschien 2001 im Verlag kopaed (München) und geht auf eine Fachtagung zurück, die 2000 an der PH Ludwigsburg stattfand. (> Fachtagungen)