Medienpädagogik und soziokulturelle Unterschiede

Projektdauer: Januar 1998 bis August 1999; Förderung: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), Baden-Baden; Projektleitung: Prof. Dr. Horst Niesyto; Mitarbeiter*innen: Inge Bozenhard, Karin Eble und Karl-Heinz Roller (Schwerpunkt: Durchführung der Experteninterviews)

Ausgangsüberlegungen

Die Auseinandersetzung mit Fragen soziokultureller Unterschiede, sozialer Ungleichheit und sozialer Benachteiligung in Zusammenhang mit Mediennutzung und Mediensozialisation sowie medienpädagogischen Angeboten war ein Thema, mit dem ich mich immer wieder befasste (> Mediensozialisation und soziale Benachteiligung). Mitte der 1990er Jahre gab es nur relativ wenige Einrichtungen, die einen deutlichen Schwerpunkt auf medienpädagogische Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen aus bildungsmäßig und sozial benachteiligenden Verhältnissen legten. Dies hatte vielfältige Gründe. Schichtgrenzen waren durchlässiger geworden, Kindheit und Jugend hatten sich in vielfältige Szenen ausdifferenziert. Medien spielten dabei eine wichtige Rolle. Fragen des Geschmacks, des Ausdrucks wurden immer wichtiger, um eigene „Duftmarken“ zu setzen und sich von anderen zu unterscheiden. Soziale und bildungsmäßige Unterschiede existierten jedoch weiterhin. In der sog. Postmoderne und in der scheinbar grenzenlosen Individualisierung geriet dies immer mehr in Vergessenheit. Nach wie vor waren die Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche aufwuchsen, unterschiedlich. So konnte z.B. belegt werden, dass spezifische Bildungsniveaus und unterschiedliche soziale Lebenslagen die jeweiligen Mediennutzungsformen beeinflussen. Auf diesem Hintergrund war eine Weiterentwicklung medienpädagogischer Konzepte ­notwendig.

Konzeption der Studie

1997 entwickelte ich die Idee und Konzeption zur Studie „Medienpädagogik und soziokulturelle Unterschiede“. Gegenstand der Studie war die rekonstruierende Erhebung und Auswertung von Angeboten und Projekten sowohl im aktiv-rezeptiven als auch im aktiv-produktiven Bereich der Medienpädagogik in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Das zentrale Erkenntnisinteresse der Studie lag darin, bisherige Erfahrungen von medienpädagogischen Angeboten und Projekten mit Kindern und Jugendlichen aus benachteiligenden Verhältnissen zu erheben und auszuwerten und für eine konzeptionelle Weiterentwicklung fruchtbar zu machen.

Zu Beginn des Projekts wurde ein Leitfaden für Experteninterviews entwickelt und mit den Projektmitarbeiter*innen abgestimmt. Die Methode des leitfadengestützten Experteninterviews ermöglichte eine Fokussierung auf wichtige Themenfelder und Erfahrungsbereiche und bot zugleich genügend Offenheit für den Interviewverlauf. In der Hauptbefragung wurden 66 Experteninterviews durchgeführt. Da der Computerbereich nach einer Zwischenauswertung unterrepräsentiert erschien, fanden noch weitere 7 Interviews zur Computermedienarbeit statt. Der Schwerpunkt der Erhebung lag in Feldern der außerschulischen Bildung, weil es hier die meisten medienpraktischen Aktivitäten gab. Im schulischen Bereich wurden Lehrer*innen aus allen Schularten einbezogen, die über einschlägige Erfahrungen verfügten. Hinzu kam die Befragung von Expert*innen, die auf Landesebene und/oder in speziellen Einrichtungen Medienarbeit machten. Die Auswahl der befragten Personen erfolgte auf der Basis mehrerer Kriterien. Alle Experteninterviews wurden transkribiert und von der Projektleitung ausgewertet. Vor der finalen Fassung wurde das Ergebnis der Auswertung (inkl. der Handlungsempfehlungen) mit den Projektmitarbeiter*innen ausführlich beraten. Näheres zum Konzept und zum methodischen Vorgehen siehe Niesyto 2000 (Kurzfassung; Konzept S. 6-8; Interview-Leitfaden und statistischer Überblick S. 46-50).


Ergebnisse der Studie

Die Ergebnisse wurden auf der Basis einer inhaltsanalytischen Auswertung der transkribierten Experteninterviews in vier zentralen Themenfeldern zusammengefasst und mit Empfehlungen für die konzeptionelle Weiterentwicklung medienpädagogischer Angebote  verbunden:

  1. Welche Zugänge sind wichtig?
  2. Schwerpunkt und Formen der Kompetenzbildung
  3. Was für Medienpädagog*innen brauchen wir?
  4. Infrastrukturelle Voraussetzungen

Der Bericht verdeutlichte, dass nur ein geringer Teil der Befragten schwerpunktmäßig medienpädagogische Angebote für Kinder und Jugendliche aus benachteiligenden Verhältnissen machte. Angesichts teilweise schwieriger Formen des Zugangs zu Kindern und Jugendlichen empfahl die Studie vor allem Formen einer aufsuchenden Medienarbeit und mobile Angebote (Niesyto 2000, Kurzfassung S. 9-11). Im Bereich der Kompetenzbildung hatten sich spielerische Formen mit verschiedenen Wahlmöglichkeiten bewährt, um eigene Kreativität und eine Motivation zur weiteren Kompetenzbildung zu fördern. In mehreren Interviews wurde deutlich, dass nicht die Technik das Kernproblem ist, sondern dass es vor allem um medien-ästhetische Fragen geht (u.a. Grundkenntnisse zu den medienspezifischen Darstellungsmöglichkeiten). Schwierige Formen der Kompetenzbildung waren bei theorielastigen Formen der Vermittlung, im Bereich der dramaturgischen Gestaltung, dem Umgang mit Texten sowie bei planerischen und reflexiven Fähigkeiten zu beobachten. Hierzu entwickelte der Bericht verschiedene Empfehlungen, wie in der Praxis eine Handlungs- und Subjektorientierung besser umgesetzt werden kann (Niesyto 2000, S. 11-27).

Ein zentrales Thema war die Frage nach der Rolle von medienpädagogischen Mitarbeiter*innen. Die Auswertung ergab eine “Mittelschicht-Lastigkeit” bei verschiedenen medienpädagogischen Akteur*innen. Dies zeigte sich u.a. an teilweise sehr kognitiv und planerisch orientierten Arbeitsformen, die zu wenig den Bedürfnissen nach praktischem Tun und nach einem anschaulichen Vorgehen gerecht werden. Die Studie fasste auch Ergebnisse zu unterschiedlichen Beratungsstilen, zu reflexiven Prozessen bei Medienproduktionen und zum Qualifikationsbedarf bei Mitarbeiter*innen zusammen.

Auch bezüglich der infrastrukturellen Voraussetzungen konnten Erfahrungswerte herausgearbeitet werden, die insbesondere die Relevanz dezentraler und niedrigschwelliger Zugänge, den erheblichen Ausbau von Formen aktiver Medienarbeit an Schulen, mehr lokale Kompetenznetzwerke und eine erhebliche Verbesserung der medienpädagogischen Ausbildung von Erzieher*innen, Sozialpädagog*innen und Lehrer*innen verdeutlichten (> Grundbildung Medien).

Ergebnisse der Studie flossen in die Planung weiterer Forschungsprojekte ein, insbesondere in das EU-Projekt > Children in Communication about Migration, aber auch in Konzepte für eine milieusensible und lebensweltorientierte Förderung von Medienkompetenz (siehe Publikationen und > aktive Medienarbeit).


Publikationen

  • Niesyto, Horst (1999): Medienpädagogik und soziokulturelle Unterschiede. In: Mediengesellschaft – neue ‚Klassengesellschaft‘? Hrsg. von der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur e.V. (GMK), Rundbrief 42. Bielefeld: S. 65-77.
  • Niesyto, Horst (2000): Medienpädagogik und soziokulturelle Unterschiede. Eine Studie zur Förderung der aktiven Medienarbeit mit Kindern und Jugendlichen aus bildungsmäßig und sozial benachteiligten Verhältnissen. Baden-Baden / Ludwigsburg: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest. (Kurzfassung; 50 Seiten)
  • Niesyto, Horst (2004): Medienpädagogik und soziokulturelle Unterschiede. Langfassung einer Studie auf der Basis von Experten-Interviews in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Ludwigsburg: Verlag Pädagogische Hochschule Ludwigsburg (Langfassung, Reprint). ISBN: 3-924080-27-5 (132 Seiten)
  • Niesyto, Horst (2004): Medienbildung mit Jugendlichen in Hauptschulmilieus. In: Informelle Bildung Online. Perspektiven für Bildung, Jugendarbeit und Medienpädagogik, hrsg. von Hans-Uwe Otto, Nadja Kutscher. Weinheim und München: Juventa, S. 122-136.
  • Niesyto, Horst (2007): Medienpädagogik, Mediensozialisation und soziale Benachteiligung. In: Grenzenlose Cyberwelt? Zum Verhältnis von digitaler Ungleichheit und neuen Bildungszugängen von Jugendlichen, hrsg. vom Kompetenzzentrum Informelle Bildung. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 153-174.

Vorträge im Kontext der Studie

20.-22.11.1998, Stuttgart: Forum Kommunikationskultur „Mediengesellschaft – neue ‚Klassengesellschaft‘?“ Veranstalter: Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK). Plenumsvortrag: „Medienpädagogik und soziokulturelle Unterschiede“ (21.11.1998). Publikation: siehe Niesyto 1999.

17.10.2002, Mainz: Fachtagung „Anschluss oder Ausschluss? Medien und Benachteiligtenförderung“. Veranstalter: Forum Pro Ausbildung. Vortrag: „Digitale Spaltung – digitale Chancen. Medienbildung mit Jugendlichen aus benachteiligenden Verhältnissen“. Vortragsmanuskript

14.02.2003, Bielefeld: Fachtreffen „Jugend online – Zugangs- und Angebotsdimensionen von Bildung im gesellschaftlichen Kontext“. Vortrag: „Medienbildung mi Jugendlichen in Hauptschulmilieus“. Publikation: siehe Niesyto 2004.