Medienpädagogik und Informatik

Kompetenzen in einer digital geprägten Kultur

Unter dieser Überschrift erschien 2010 ein Bericht der Expertenkommission des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zur Medienbildung. In der Kommission hatten Vertreter*innen aus unterschiedlichen Institutionen, aus Wissenschaft und Praxis, aus Bildung und Weiterbildung, mitgewirkt ­– darunter auch Vertreter*innen der Informatik und der Medienpädagogik. In dieser Kommission gelang es, sich auf ein breites Verständnis von Medienbildung zu verständigen, das mehrere Kompetenzfelder zusammenführte. Im Bericht der Kommission hieß es:

„Der Begriff der Medienkompetenz wird in der Öffentlichkeit inflationär und oft verkürzt verwendet. Als wissenschaftliche Disziplinen haben sich insbesondere Medienpädagogik und (Medien-)Informatik mit durchaus auch unterschiedlichen Konzepten zur Medienkompetenz geäußert. Mit der vorliegenden Erklärung ‹Kompetenzen in einer digital geprägten Kultur› tritt die Expertenkommission für eine umfassende Sicht auf Medienbildung ein“ (ebd., 5f).

Als der Kommissionsbericht erschien, gab es in Fachöffentlichkeiten diverse Anstrengungen, eine umfassende Sicht auf Medienbildung im bildungspolitischen Raum zu verankern (> Initiative Keine Bildung ohne Medien!). Es gelang, ein breites Bündnis zur Förderung von Medienkompetenz und Medienbildung zu schmieden und es entwickelten sich weitere Aktivitäten, an denen auch Vertreter*innen der informatischen Bildung beteiligt waren (z.B. Bildungsmediale 2013).

Einige Zeit später setzte in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik verstärkt eine Entwicklung ein, Medienbildung auf Lernen mit Medien, auf informatische Aspekte und auf Daten- und Jugendmedienschutz zu reduzieren. Die damit verknüpfte „Digitalpolitik“ geht von einem Primat der Technologie und der Wirtschaft aus und setzt vor allem auf arbeitsweltbezogene Anwenderfähigkeiten. Dimensionen wie z.B. die Persönlichkeitsbildung mit Medien, die kritische Analyse von gesellschaftlichen Medienentwicklungen, die Thematisierung sozialer Ungleichheiten bei der Mediennutzung drohen ins Abseits zu geraten (> Medienpädagogik und Politik).

Diskurs ist notwendig – aber bitte auf Augenhöhe!

Im akademischen Bereich initiierte die Informatik 2016 eine Konferenz in Dagstuhl, zu der Vertreter*innen aus verschiedenen Fachdisziplinen und Bildungsbereichen eingeladen wurden. Die Konferenz verabschiedete die Dagstuhl-Erklärung/Link. Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass der Austausch zwischen Medienpädagogik, Informatik, Medienwissenschaft und anderen Fachdisziplinen fortgesetzt wurde, um gemeinsam zu überlegen, wie man die Herausforderungen von Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft bewältigen kann – und wo es hier Berührungspunkte und Schnittmengen für Kooperationen gibt.

Mögliche Schnittmengen zeichnen sich z.B. zu folgenden Themen ab: Grundlagen von Computational Thinking, Gestaltbarkeit von Software, Making-Perspektive. Zu Schnittmengen gehören unter der Perspektive einer kritisch-reflexiven Medienbildung aber auch grundlegende Aspekte der Medienkritik, z.B. die kritische Auseinandersetzung mit Formen der Datenenteignung (Kommerzialisierung nahezu sämtlicher Lebensbereiche) und teilweise totalitären Machtstrukturen in Verbindung mit Big Data (> digitaler Kapitalismus). Medienkritik wird in der Dagstuhl-Erklärung ausgeklammert – das ist ein Problem. Auch fehlt jegliche Bezugnahme auf das wichtige Anliegen einer > Grundbildung Medien. Eine solche Grundbildung lässt sich nicht auf „digitale Bildung“ reduzieren, sondern umfasst mehr Kompetenzfelder.

Die Dagstuhl-Erklärung fällt bezüglich des Verständnisses von Medienbildung deutlich hinter den Bericht der Expertenkommission Kompetenzen in einer digitalen Kultur (2010) zurück. Und in der Charta Digitale Bildung/Link, die 2019 seitens der Gesellschaft für Informatik initiiert wurde, ist von Medienbildung gar nicht mehr die Rede.

Perspektiven des Diskurses

Es ist zu hoffen, dass es im Hinblick auf bildungspolitische Rahmenbedingungen zu Lösungen kommt, die sowohl grundlegende Anliegen der Medienpädagogik als auch der informatischen Bildung gerecht werden. Im akademischen Bereich entstand 2019 das „Frankfurt-Dreieck zur Bildung in der digital vernetzten Welt“ als ein interdisziplinärer Denkanstoss. Weitere Beiträge zum Verhältnis von Medienpädagogik und Informatik finden sich u.a. in Heft Nr. 4/2018 der Zeitschrift medien + erziehung und im Heft Nr. 33 (2018) der Zeitschrift MedienPädagogik.

Bezogen auf die Situation an Hochschulen ist davon auszugehen, dass Informatik und Medienpädagogik weiterhin eigenständige Disziplinen bleiben. Dies drückt sich auch in entsprechenden Studiengängen bzw. Studiengangsanteilen aus. Unabhängig davon besteht die Chance, z. B. im Rahmen einer Grundbildung Medien zu kooperieren, wie dies bereits an verschiedenen Hochschulstandorten der Fall ist (vgl. Niesyto 2019).

„Es kann weder die Perspektive sein, entweder die informatische Bildung vollständig in die Medienbildung zu integrieren oder die Medienbildung in ein Fach Informatik zu integrieren. Denn beide Bereiche haben für sich jeweils unverzichtbare Inhalte und für beide stellt sich die Frage, «wie notwendige Aspekte des jeweils anderen Bereiches eingebracht werden können» (Tulodziecki).“ (Aus dem Editorial des Themenheftes Nr. 25 der Zeitschrift MedienPädagogik, 2016)

Insgesamt ist festzuhalten, dass die Medienpädagogik weiterhin vor der Aufgabe steht, bei der Förderung von Medienbildung und Medienkompetenz mit Fachdisziplinen, Organisationen und Akteuren*innen in unterschiedlichen Bereichen zusammenzuarbeiten.

Wir brauchen eine Medienpädagogik, die technologisch-informatische, ökonomische, kulturelle und politische, soziale, ethische und ästhetische Fragen thematisiert, die das Medienhandeln der Menschen in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Medienentwicklungen erforscht und analysiert und die Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Bildungskontexten Handlungsräume mit Medien jenseits kommerziell-kapitalistischer Vereinnahmungen eröffnet.   >  siehe das Positionspapier der Initiative „Bildung und digitaler Kapitalismus“ (2023)


Die folgenden Publikationshinweise beziehen sich zum einen auf das Themenheft Nr. 25 der Zeitschrift MedienPädagogik, an dem ich als Mit-Herausgeber mitwirkte. Zum anderen geht es um das Entwicklungsprojekt Digitales Lernen Grundschule – Stuttgart/Ludwigsburg (dileg-SL), in dem es auch eine Kooperation von Medienpädagogik und Informatik bzw. eine Integration informatischer Aspekte in fächerübergreifende Aktivitäten gab.

Publikationen

  • Rummler, Klaus / Döbeli Honegger, Beat / Moser, Heinz / Niesyto, Horst (2016): Editorial: Medienbildung und informatische Bildung – quo vadis? In: Medienbildung und informatische Bildung – quo vadis? MedienPädagogik, Themenheft 25.
  • Niesyto, Horst (2019): Ergebnisse des Entwicklungsprojekts dileg-SL. Kernpunkte in teilprojektübergreifender Perspektive. In: Digitale Medien in der Grundschullehrerbildung. Erfahrungen aus dem Projekt dileg-SL, hrsg. von Thorsten Junge und Horst Niesyto. Schriftenreihe Medienpädagogik interdisziplinär, Band 12. München: kopaed, S. 207-232. Onlineversion
  • Knaus, Thomas / Niesyto, Horst (2019): Digitale Medien in der Grundschule. Ein Gespräch über Herausforderungen und Chancen für Schule und Lehrerinnen- und Lehrerbildung. In: Digitale Medien in der Grundschullehrerbildung. Erfahrungen aus dem Projekt dileg-SL, hrsg. von Thorsten Junge und Horst Niesyto. Schriftenreihe Medienpädagogik interdisziplinär, Band 12. München: kopaed, S. 345-365. Onlineversion
  • Autenrieth, Daniel / Marquardt, Anja unter Mitwirkung von Thorsten Junge und Horst Niesyto (2017): Neue Formen des digitalen Lernens – fächerübergreifende Arbeit mit dem iPad. Konzeptionelle Grundlagen und Erfahrungswerte aus dem Teilprojekt 2 von dileg-SL. In: Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik, Nr. 19 (2017) (19 Seiten).
  • Niesyto, Horst (2018): Anmerkungen zum Thema „Computational Thinking“. In: Dokumentation des Projekts „Neue Formen des digitalen Lernens – fächerübergreife Arbeit mit dem iPad. (Projekt dileg-SL, Teilprojekt 2)