Medien und Wirklichkeitserfahrung
Für die Medienpädagogik ist die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wechselverhältnis von Medien, Wirklichkeit und Erfahrung konstitutiv. In meinen Überlegungen gehe ich von einem weiten Medienbegriff aus, der vor allem die symbolisch-kommunikativen Dimensionen betont. Symbolverstehen und Symbolproduktion (Belgrad/Niesyto 2001) beziehen sich dabei nicht nur auf technische Analog- und Digitalmedien, sondern umfassen elementare Sprach- und Kommunikationskompetenz, die von Gestik, Mimik, Tönen, Bildern, Bewegtbildern bis hin zu komplexen multimedialen und digitalen Ausdrucks- und Kommunikationsformen reichen. Die Verwendung eines eher weiten Medienbegriffs inkludiert zugleich die Kenntnis und Reflexion der technisch-materialien und gestalterisch-ästhetischen Grundlagen und Möglichkeiten der verschiedenen Kommunikationsmedien und ein Verständnis für die verschiedenen Formen des Medienhandelns in soziokulturellen und gesellschaftlichen Kontexten.
In meiner Arbeit über Erfahrungsproduktion mit Medien akzentuierte ich vor allem die symbolischen Dimensionen medialer Kommunikation:
„Aus dieser Überlegung und begrifflichen Bestimmung folgt, Medien vor allem als ‚Agenturen sozialer Bedeutungsproduktion und Wirklichkeitsinterpretation‘ zu verstehen und mediale Rezeption unter dem Aspekt subjektiver Re-Konstruktion der Medien-Realität sowie dem damit verbundenen Vorgang und Nutzen für die Konstruktion und Bewältigung der eigenen Lebenswirklichkeit zu analysieren und zu interpretieren (…) Die Definition sozialer Situationen ist dabei als ein aktiver, konstruierender Prozeß von sozialer Wirklichkeit zu verstehen, wobei die vorliegende Arbeit im Unterschied zu der Auffassung des symbolischen Interaktionismus davon ausgeht, daß soziale Wirklichkeit nicht allein und nur aufgrund lebensweltlicher Realitätsdefinitionen existiert“ (Niesyto 1991, S. 48/9).
Es ging mir vor allem darum, im Kontext von Bildungsprozessen die Potenziale der Wiederaneignung des Symbolischen durch eine Erfahrungsproduktion mit Medien zu betonen (> aktive Medienarbeit). Diese Perspektive erübrigt jedoch nicht die Reflexion von Zusammenhängen zwischen gesellschaftlichen Medienangeboten und -entwicklungen, unterschiedlichen sozialen Lebenslagen und Formen subjektiver Wirklichkeitserfahrung. Notwendig ist eine integrative Theoriebildung, die medientechnische und -ästhetische, soziale und gesellschaftliche Dimensionen aufeinander bezieht und über Beschreibungen von (subjektiven) Aneignungsprozessen hinaus nach gesellschaftlich-medialen und mediensozialisatorischen Mustern fragt. Diese integrative Theoriebildung verbinde ich mit der Entwicklung eines > sozial-ästhetischen Ansatzes. Der Ansatz knüpft an kultursoziologische Analysen an, in deren Zentrum die Frage nach dem Zusammenhang von symbolischen Formen und sozialen Strukturen bei der medienvermittelten Wirklichkeitserfahrung steht (Niesyto 2002, S. 49 ff).
Publikationen
- Niesyto, Horst (2012): Bildungsprozesse unter den Bedingungen medialer Beschleunigung. In: Raum, Zeit, Medienbildung. Untersuchungen zu medialen Veränderungen unseres Verhältnisses zu Raum und Zeit, hrsg. von Gerhard Chr. Bukow, Johannes Fromme, Benjamin Jörissen. Reihe Medienbildung und Gesellschaft, Band 23. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 47-66. Preprint
- Niesyto, Horst (2007): Mediensozialisation, gesellschaftliche Medienentwicklung und Medienkritik. In: Mediennutzung – Medienwirkung – Medienregulierung, hrsg. von Ralf Schnell. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Heft 146 (2007), Jhg. 37, S. 23-46.
- Niesyto, Horst (2004): Mediale Aufmerksamkeitserregung und Medienkritik. In: Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik, Nr. 6 (2004) (9 Seiten). Link
- Niesyto, Horst (2002): Medien und Wirklichkeitserfahrung – symbolische Formen und soziale Welt. In: Wechselbeziehungen. Medien – Wirklichkeit – Erfahrung., hrsg. von Lothar Mikos und Norbert Neumann. Berlin: Vistas, S. 29-54.
- Niesyto, Horst (1991): Erfahrungsproduktion mit Medien. Selbstbilder, Darstellungsformen, Gruppenprozesse. Edition Soziale Arbeit. Weinheim und München: Juventa. (Veröffentlichung der Dissertation)
Vorträge
- 14.04.2012, Tutzing: Fachtagung der Evang. Akademie Tutzing zum Thema „Meine Bildung hab‘ ich aus dem Netz“. Plenumsvortrag: „Tempo! Tempo! – Bildungsprozesse in einer beschleunigten Welt“
Wir leben in einer Zeit enormer Beschleunigung technischer, sozialer und gesellschaftlicher Prozesse. Der Vortrag setzt sich mit Dimensionen der Beschleunigung im Hinblick auf Reflexions- und Distanzierungsfähigkeit auseinander. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass Bildungsprozesse als Erfahrungs- und Lernprozesse Zeit benötigen. Im Vortrag wird zunächst das Verständnis von Bildung und Reflexivität dargelegt, um dann der Frage nachzugehen, wie sich unter Bedingungen sozialer und medialer Beschleunigung Reflexivität entwickelt bzw. eingeschränkt wird. Der abschließende Teil skizziert Anforderungen und Aufgaben für die Medienpädagogik, die sich aus der Analyse ergeben.
Tonmitschnitt (29 min; Begrüßung: Judith Stumptner, Evang. Akademie Tutzing)
- 21.04.2010, Stuttgart: 33. Stuttgarter Tage der Medienpädagogik: „Wissen ist (Ohn-)Macht? Wissenskultur im digitalen Zeitalter“; Plenumsvortrag: „Keine Bildung ohne Medien – Bildungsprozesse unter den Bedingungen medialer Beschleunigung“
- 31.10.2003, Ludwigsburg: Fachtagung „Medien – Religion – Bildung“. Veranstalter: Interdisziplinäres Zentrum für Medienpädagogik und Medienforschung (IZMM), PH Ludwigsburg. Vortrag: „Aufmerksamkeitserregung. Kritische Anmerkungen zum ‚kulturellen Kapitalismus‘ unserer Zeit und den Aufgaben einer emanzipatorischen Medienpädagogik“.
- 20.-22.11.1998, Stuttgart: Forum Kommunikationskultur „Mediengesellschaft – neue ‚Klassengesellschaft‘?“ Veranstalter: Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK). Plenumsvortrag: „Medienpädagogik und soziokulturelle Unterschiede“ (21.11.1998).