Mediensozialisation und soziale Benachteiligung

Die Auseinandersetzung mit der Mediensozialisation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist wichtig, um in pädagogischen Kontexten Angebote zur Medienbildung und Medienerziehung entwickeln zu können, die jeweils an den vorhandenen Medienerfahrungen anknüpfen und zielgruppensensibel Formen einer inklusiven Medienbildung fördern. In der Medienpädagogik hat sich ein Sozialisationsbegriff etabliert, der die Wechselwirkungen von gesellschaftlichen, medialen und individuellen Einflussgrößen betont. Sichtweisen, die jeweils einen Faktor in diesem Wechselverhältnis einseitig betonen, laufen Gefahr, entweder medialen und gesellschaftlichen Strukturen determinierende Wirkungen auf Wahrnehmung, Denken und Handeln der Menschen zuzuschreiben oder die subjektiven Medienaneignungen von solchen Struktureinflüssen weitgehend zu entkoppeln.

Soziokulturelle Unterschiede in der Mediensozialisation und Medienaneignung verweisen nicht automatisch auf Aspekte sozialer Benachteiligung und digitaler Ungleichheit, sondern zunächst einmal auf andere medien- und sozial-ästhetische Präferenzen. Formen sozialer Benachteiligung werden vor allem dann sichtbar, wenn es nach wie vor in bestimmten Bereichen Zugangsbarrierern zu digitalen Medien gibt und vorhandene Ressourcen nicht ausreichen, um Medien reflexiv und aktiv für die eigene Lebensbewältigung und Persönlichkeitsbildung zu nutzen. Familiäre und andere soziale Anregungsmilieus spielen hier eine wichtige Rolle. Das Bild vom ‚autonomen Rezipienten‘, der Zugriff auf sehr viele Ressourcen hat, mag für bestimmte Gruppen zutreffen. Viele Kinder und Jugendliche erhalten aber weder im Rahmen der familiären noch der schulischen Sozialisation hinreichend Anregungen für einen reflektierten Medienumgang.

Medien sind nicht Verursacher sozialer Ungleichheit – sie können aber als Verstärker wirken. Deshalb ist die Förderung von Medienkompetenz für alle wichtig. Es bedarf medienpädagogischer Angebote in unterschiedlichen Handlungsfeldern – von der frühkindlichen Bildung, über die schulische, außerschulische und berufliche Bildung bis hin zur Familien-, Eltern- und Seniorenbildung. Dabei sollten Medienpädagog*innen stets ihre eigene Haltung und ihre Angebote auch dahin gehend reflektieren, ob sie differenzierte und milieu- und zielgruppensensible Bildungszugänge und -prozesse ermöglichen (siehe hierzu meine Analysen und pädagogischen Schlussfolgerungen in verschiedenen Studien, Publikationen und Vorträgen, u.a. Niesyto 1999; 2006; 2009).


Publikationen

  • Niesyto, Horst (2019): Mediensozialisation. In: Handbuch Inklusion und Medienbildung, hrsg. von Ingo Bosse, Jan-René Schluchter und Isabel Zorn. Weinheim: Beltz Juventa, S. 34-48. Link (open access)
  • Niesyto, Horst (2010): Kritische Anmerkungen zu Theorien der Mediennutzung und Mediensozialisation. In: Mediensozialisationstheorien. Neue Modelle und Ansätze in der Diskussion, hrsg. von Dagmar Hoffmann und Lothar Mikos, 2. Auflage. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 47-66.
  • Niesyto, Horst (2010): Soziale Ungleichheit. In: Handbuch Mediensozialisation, hrsg. von Ralf Vollbrecht und Claudia Wegener. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 380-387. Preprint
  • Niesyto, Horst (2009): Digitale Medien, soziale Benachteiligung und soziale Distinktion. In: MedienPädagogik, Themenheft 17 (2009): Medien und soziokulturelle Unterschiede (19 Seiten).
  • Niesyto, Horst (2009): Medienpädagogik und soziale Benachteiligung. In: Handbuch der Erziehungswissenschaft, hrsg. von Gerhard Mertens, Ursula Frost, Winfried Böhm, Volker Ladenthien. Band III/2, bearbeitet von Norbert Meder, Cristina Allemann-Ghionda, Uwe Uhlendorff, Gerhard Mertens. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh, S. 871-876.
  • Niesyto, Horst (2009): Mediale Selbstsozialisation. In: Handbuch der Erziehungswissenschaft, hrsg. von Gerhard Mertens, Ursula Frost, Winfried Böhm, Volker Ladenthien. Band III/2, bearbeitet von Norbert Meder, Cristina Allemann-Ghionda, Uwe Uhlendorff, Gerhard Mertens. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh, S. 939-942.
  • Moser, Heinz / Niesyto, Horst (2009): Digital Divide – noch aktuell? Eine Diskussion. In: Geteilter Bildschirm –getrennte Welten? Konzepte für Pädagogik und Bildung, hrsg. von Bernward Hoffmann und Hans-Joachim Ulbrich. GMK-Schriftenreihe, Band 42. München: kopaed, S. 31-41.
  • Niesyto, Horst (2007): Medienpädagogik, Mediensozialisation und soziale Benachteiligung. In: Grenzenlose Cyberwelt? Zum Verhältnis von digitaler Ungleichheit und neuen Bildungszugängen von Jugendlichen, hrsg. vom Kompetenzzentrum Informelle Bildung. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 153-174.
  • Niesyto, Horst (2006): Kritische Anmerkungen zu Theorien der Mediennutzung und -sozialisation. In K.-S. Rehberg (Hrsg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaftfür Soziologie in München. 2 Bände mit CD-ROM (S. 3335-3346). Frankfurt am Main: Campus  Link
  • Niesyto, Horst (2004): Kritische Anmerkungen zum Konzept „medialer Selbstsozialisation“.  In: Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik, Nr. 5 (2004), S. 10-12.
  • Niesyto, Horst (1999): Medienpädagogik und soziokulturelle Unterschiede. In: Mediengesellschaft – neue ‚Klassengesellschaft‘? Hrsg. von der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur e.V. (GMK), Rundbrief 42. Bielefeld: S. 65-77.

Vorträge

  • 18.11.2021, Online-Tagung der Sektion „Bildung und Erziehung“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie an der Helmut Schmidt Universität, Hamburg. Thema: „Digitaler Kapitalismus, Sozialisation und Digital Divide“.
  • 21.03.2013, Otzenhausen: Fachtagung: „Medienprojektarbeit mit Kindern und Jugendlichen“. Veranstalter: Adolf-Bender-Zentrum e.V. Eröffnungsvortrag: „Medienpädagogik und soziale Ungleichheit“
  • 21.03.2012, Stuttgart: 35. Stuttgarter Tage der Medienpädagogik zum Thema „Großbaustelle Bildung – Soziale Benachteiligung und Medienpädagogik“. Plenumsvortrag zum Thema „Medienpädagogik und soziale Ungleichheit – Anforderungen an Bildung und Forschung“. (21.03.2012) Tonmitschnitt (Auszüge) und PDF:

Teil 1: Grundlagen (10:13 min)

Teil 2: Befunde aus Studien (13:03 min)

Teil 3: Anforderungen an Bildung und Forschung (PDF)

  • 17.10.2008, Bonn: Fachkongress „Soziale Ungleichheit – Medienpädagogik – Partizipation“ (Programm). Veranstalter: JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis (München) und Abteilung Medienpädagogik (PH Ludwigsburg). Förderung: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Plenumsvortrag zum Thema „Die soziale Frage in Medienpädagogik und Medienforschung“: siehe Teil 2 der Tagungsdokumentation; Teil 1.

Die ‚soziale Frage’ befasst sich klassisch mit Fragen sozialer Lebenslagen, sozialer Ungleichheit, sozialer Benachteiligung und in pädagogischen Kontexten mit Bildungsbenachteiligung. In Medienkontexten geht es um ein erweitertes Verständnis. Behandelt werden Aspekte wie: Medien und soziale Wahrnehmung, Medienaneignung als soziales Handeln, Medien und soziokulturelle Unterschiede. Es geht um Prozesse der para-sozialen Kommunikation und der Identitätsbildung mit Medien, um Problemlagen in der gesellschaftlichen Medienentwicklung und im Medienhandeln  und um Partizipation mit Medien: sozial, kulturell, politisch.

  • 03.07.2008, Zürich: Fortbildungstagung des Fachbereichs Medienbildung an der PH Zürich. Vortrag zum Thema „Soziale Ungleichheit und Aufgaben der Medienbildung“. Der Vortrag geht auf den Begriff „soziale Ungleichheit“ ein, stellt Befunde aus der empirischen Forschung zu Unterschieden in der Medienaneignung bei verschiedenen Sozialmilieus vor und arbeitet benachteiligende Bedingungen heraus. Mit Blick auf die Pädagogik werden bestimmte Bildungskulturen als ein benachteiligender Faktor benannt und Gelingensbedingungen für eine milieusensible Medienbildung skizziert.
  • 19.03.2008, Dresden: 21. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) an der TU Dresden: „Kulturen der Bildung“. Moderation der AG 47 „Medienkulturen und soziale Ungleichheit. Zum Spannungsfeld von kulturtheoretischer und lebenslagenbezogener Jugendmedienforschung. In memoriam Dieter Baacke“. Vortrag: „Medienkulturen und soziale Ungleichheit – Einführung in die Thematik“.
  • 17.10.2002, Mainz: Fachtagung „Anschluss oder Ausschluss? Medien und Benachteiligtenförderung“. Veranstalter: „Forum Pro Ausbildung“. Plenumsvortrag: „Digitale Spaltung – digitale Chancen. Medienbildung mit Jugendlichen aus benachteiligenden Verhältnissen“.

Zum Vortrag: Rückblickend haben sich Situationen in einzelnen Bereichen sicherlich verändert. Aber vor allem die Überlegungen zur medienpädagogischen Praxis sind nach meiner Einschätzung nach wie vor relevant –­ siehe den Teil über „Grundsätze der Medienbildung mit Jugendlichen aus bildungsmäßig und sozial benachteiligenden Verhältnissen“  (ab Seite 8).